Michael Buselmeier am 22. September 2019 im Feuerwehrhaus/Weststadt (Bilder: © Sabine Röhl)


Mannheimer Morgen vom 21. September 2019

Autoren und Verlage bieten Nahrung für Geist und Seele

Kultur „Literaturherbst“ als Kontrast zum Heidelberger Herbst konzipiert
Bis Sonntag auch an ungewöhnlichen Orten Lesungen

21. September 2019 Autor: Michaela Roßner (miro)

July Söberg hat für ihre Lesung aus „Eiskalt weggewischt“ gelbe Gummihandschuhe übergestreift. © Marco Lalli

Heidelberg.In den gelben Gummihandschuhen hält July Söberg das Buch, aus dem sie liest. Eine bunte Schürze hat sie sich umgebunden, auf dem Kopf ein Kopftuch geknotet. Vor dem „Café YilllY“ in der Heidelberger Altstadt sitzen Zuhörer, Autos fahren über das alte Pflaster der Haspelgasse an Söberg vorbei. „Eiskalt erwischt“ heißt der „Putzfrauenkrimi“, den sie gemeinsam mit Yvonne Schwegler geschrieben hat. Beim „Heidelberger Literaturherbst“ geben die beiden Frauen gemeinsam auf offener Straße ein paar Minuten einen humorvollen Einblick in die Erlebnisse ihrer beiden etwas schrägen Ermittlerinnen. Noch bis Sonntag, 22. September, kann man an vielen Orten in der Stadt Literatur erleben: Insgesamt 31 Veranstaltungen von Schriftstellern und Verlagen aus der Region stehen auf dem Programm.

Organisiert hat das zum fünften Mal der Verein „Literaturnetz Heidelberg“. „Wir wollten einen Gegenpol zum Heidelberger Herbst setzen, bei dem es vor allem um Essen und Trinken geht“, erklärt Lothar Seidler, einer der Initiatoren, warum die Veranstaltungsreihe genau eine Woche vor dem größten Straßenfest der Stadt terminiert ist. Die Idee ursprünglich: die gesamte Altstadt zu einem Ort für Literatur zu machen. Doch schon weil die Stadtbibliothek, sozusagen das literarische Herz der Unistadt, im Stadtteil Bergheim liegt, wuchs das Literaturfest ganz schnell. In diesem Jahr ist Rohrbach dazu gekommen – und mit Dossenheim sogar eine Nachbarkommune, freut sich Seidler, der auch einen eigenen Verlag hat.

„Sammel-Format“ kommt an

Acht Autoren geben bei der Lesung unter freiem Himmel in der Haspelgasse einen Einblick in ihr Werk. Ein Format, das gut ankommt. Eher unbekannte Autoren zögen eher wenige Interessierte an, weiß Seidler. An diesem Freitagnachmittag hält ein paar hundert Meter weiter auf dem Marktplatz immer noch die „Fridays For Future“-Bewegung mehrere tausend Menschen zusammen. „Das hier hätte viel mehr Publikum verdient“, findet Eva Frei, die sich – wie ihr Begleiter Heinz Scheier eigens einen Klappstuhl mitgebracht hat, um die Lesungen entspannt verfolgen zu können.

Birgit Heid ist Spezialistin für Haikus, japanische Kurzgedichte – genau gesagt Ketten-Haikus, die Romaji heißen. Passend zu diesem Freitag hat sie ein Blatt voller „Klimaschutz-Haikus“ mitgebracht. „Auf dem Skihang weiße Krokusse“, trägt sie langsam vor.

Auch am Samstag und Sonntag gibt es noch mehrere Lesungen an eher ungewöhnlichen Orten – etwa vor dem öffentlichen Bücherregal auf dem Marktplatz in Rohrbach und im Weinberg.

Beim Auftakt zum „Lesefest“ am Donnerstagabend im Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) hat Ursula Krechel einen Einblick in Ihre Arbeit gegeben. „Geisterbahn“ heißt ihr neuer Roman, der Abschluss einer Trilogie ist. Die 74-Jährige ist bekannt für gründliche Recherche ihrer Stoffe. Krechel erzählt die Lebensgeschichte einer Sinti-Familie, der Dorns, über mehrere Jahrzehnte. Die Idee dazu habe ihr eine Begegnung aus der Kindheit in Trier gegeben: „Eine immer schwarz gekleidete, sehr traurig wirkende Frau, die als einzige ihr Kind immer zur Schule brachte und abholte.“ Krechels Figuren haben keine realen Vorbilder, sondern sind inspiriert durch viele Gespräche mit Zeitzeugen und langen Stunden in den Archiven. In den Beständen des Dokumentationszentrums der Sinti und Roma in Heidelberg hat sie Frank Reuter kennengelernt, der über Antiziganismus forscht und neben ihr auf dem Podium sitzt. „Ein ausgesprochen aktuelles Buch“, findet Jutta Wagner (DAI), die den Abend in der Bücherei des Hauses einleitet.

© Mannheimer Morgen, Samstag, 21.09.2019

Fotostrecke aus dem Morgenweb vom 20. September 2019

Literaturherbst in Heidelberg

Zum fünften Mal kann man Heidelberger Autoren und Verlage bei Veranstaltungen überall in der Stadt erleben: Vom 19. bis 22. September gibt es 31 Veranstaltungen.

20. September 2019

1/7Birgit Heid liest beim „Literaturherbst“ Haikus, japanische Kurzgedichte. © Marco Lalli

2/7July Söberg (l.) und Yvonne Schwegler (r.) lesen beim „Literaturherbst“ aus ihrem Putzfrauenkrimi „Eiskalt weggewischt“. © Marco Lalli

3/7July Söberg hat für ihre Lesung aus „Eiskalt weggewischt“ gelbe Gummihandschuhe übergestreift. © Marco Lalli

4/7Dr. Frank Reuter, Antiziganismusforscher aus Heidelberg, moderiert die Lesung von Ursula Krechel zur Eröffnung des fünften „Heidelberger Literaturherbstes“. © Marco Lalli

5/7Ursula Krechel liest bei der Eröffnung des fünften „Heidelberger Literaturherbstes“ aus ihrem Roman „Geisterbahn“. © Marco Lalli

6/7Jutta Wagner vom Deutsch-Amerikanischen Institut begrüßt die Gäste zur Auftaktveranstaltung des „Heidelberger Literaturherbstes“. © Marco Lalli

7/7Lothar Seidler gehört mit dem Verein „Literaturnetz Heidelberg“ zu den Organisatoren. © Marco Lalli


Rhein-Neckar-Zeitung vom 21. September 2019

Dieses Sinti-Schicksal erzählt Ursula Krechel in „Geisterbahn“

Auftakt mit Roman-Lesung im DAI – „In die traurigen Augen geschaut“

Gibt der Opfergruppe der Sinti und Roma eine literarische Stimme: die Schriftstellerin Ursula Krechel mit ihrem Roman „Geisterbahn“. Foto: Alfred Gerold

Von Heribert Vogt

Heidelberg. „Klatsch! Ihre schöne Hoffnung war auf den Boden gefallen.“ Zwei Sinti, Inhaber eines Karussellgeschäfts, sind im Jahr 1936 von den neuen Autoscootern begeistert – diese sind ihr Zukunftstraum. Aber auf der Messe in Berlin erhalten sie eine „schallende Ohrfeige“, denn dort verkauft man „nicht an Zigeuner“. Die Schriftstellerin Ursula Krechel (Jahrgang 1947) las zum Auftakt des 5. Heidelberger Literaturherbstes im DAI aus ihrem jüngsten Roman „Geisterbahn“, der vom Schicksal der deutschen Sinti-Familie Dorn über mehrere Generationen erzählt.

Und obwohl die Zahl von 600.000 während der Nazi-Zeit ermordeten Sinti und Roma im Raum stand, gelang Krechel eine „schöne“ Lesung, ein literarischer Balanceakt, der bei allem Schrecken die Menschlichkeit der Betroffenen nicht verdeckt, sondern oft auch leicht und heiter erscheinen lässt.

Ursula Krechel hat mit dem vorliegenden Buch ihre Trilogie über Opfer und Täter während der deutschen Nazi- und Nachkriegszeit abgeschlossen. Anfangs ging es in den Großromanen um das Schicksal verfolgter Juden im chinesischen Exil („Shanghai fern von wo“). Danach folgte ein Werk über einen unerwünschten jüdischen Rückkehrer und dessen zerbrochene Familie („Landgericht“), das im Jahr 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Und im gegenwärtigen Flüchtlingszeitalter besonders aktuell ist der Roman „Geisterbahn“ mit den geschilderten Erfahrungen von Diskriminierung, Vertreibung und Gewalt.

Mit ihrer Trilogie sei sie vom Weiten ins ganz Nahe gegangen: von China über Deutschland in ihre Heimatstadt Trier, wo sie dem alltäglichen Faschismus nachgespürt habe. Im Gespräch mit Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg berichtete Krechel davon, wie sie als Kind eine „abgrundtief traurige“ Sinti-Frau sah, die ihr Kind vorsichtshalber von der Schule abholte: „So begann ich einfach, in die Augen dieser Frau hineinzuschreiben“.

Und Krechel, die stets mit aufwendigen Recherchen arbeitet, hat dafür auch im Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma nachgeforscht. Denn diese Opfergruppe steht „immer im Schatten“. Die Autorin greift stark auf Dokumente zurück, die ihr eine Vorstellung von dem jeweiligen Menschen geben. Sie schreibt aber nicht über sie, sondern erfindet Romanfiguren, in die Realität einfließt. Durch Vermeidung persönlicher Emotionen sollen die Menschen möglichst schattenlos konturiert sein, damit sie viel eigene Autonomie ausstrahlen.

Darin liegt auch eine Abrechnung mit der klischeehaften „Zigeunerromantik“, wie sie etwa bei dem mit Heidelberg verbundenen Schriftsteller Nikolaus Lenau anzutreffen ist, so Frank Reuter. Er würdigte Krechels behutsame Annäherung an das Thema. Denn sie habe das Schicksal der Sinti-Familie eingewoben in ein „großes Epochenpanorama“: Die dargestellten Menschen führen kein Oasendasein, sondern sind auf der Höhe der Zeit. Ihr starkes Interesse an Autoscootern kündet von ihrer Modernität. Reuter bezeichnete Krechels Roman als „das erste Werk von literarischem Rang, das dieser Opfergruppe eine Stimme gibt“.

Aber die Protagonisten des Romans haben es mit ihren Träumen sehr schwer. Wenige Tage nachdem sie 1936 mit ihrem Autoscooter-Wunsch abgeblitzt sind, stür-zen sie im wuseligen Berlin in ein schlimmes Szenario. Denn seit Kurzem gibt es einen „Runderlass betreffend die Bekämpfung der Zigeunerplage“. Und im Vorfeld der Olympischen Spiele läuft am 16. Juli 1936 eine große Deportation an, der auch die beiden Sinti Alfons und Laurenz Dorn zum Opfer fallen. Sie werden unter den unwürdigsten Umständen in das Zwangslager Marzahn transportiert.

Fünf Kinder der Familie sterben dann im Lager, der Junge Ignatz wird dort noch geboren. Mit den schwer gezeichneten überlebenden Eltern und Schwester Anna kommt er nach Trier. Dort sitzen die beiden Kinder später mit den anderen Schülern in einer Klasse – scheinbar angekommen in der „Normalität“, leben die Geister der Vergangenheit doch weiter.

Und das hält auch später, fast bis in unsere Gegenwart, weiter an. Die Geschwister Anna und Ignatz haben inzwischen in einem aufgegebenen Trierer Bahnhof ein Restaurant eröffnet. Mit warmem Erzählton schildert Ursula Krechel auch diese Zeit. Mal brummt der Laden, mal wird es schwierig. Aber eines Tages wird eingebrochen, und „scharlachrote SS-Runen“ sind an die Wand geschmiert. Der Aufklärungsdrang der freundlichen Polizisten hält sich in Grenzen, und so ein Bahnhof ist eben auch nicht leicht zu versichern …

Insgesamt ein beklemmend-faszinierender Abend und ein gelungener Start in den Heidelberger Literaturherbst, der noch bis zum morgigen Sonntag über die weitverzweigten Bühnen der Stadt geht.

Info: Ursula Krechel: „Geisterbahn“. Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2018. 650 S., geb., 32 Euro


Rhein-Neckar-Zeitung vom 20. September 2019


Rhein-Neckar-Zeitung vom 19. September 2019



Rhein-Neckar-Zeitung vom 16. September 2019


Heidelberg aktuell vom September 2019

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